Sunday, March 12, 2006

Fette Vorurteile

Nicht erst seit Marius Müller-Westernhagen wissen wir, das Dicke schwitzen, keine Luft bekommen und, zumindest für ihn, offensichtlich schwer zu ertragen sind.
Dicke lachen auch zu laut, sind undiszipliniert, essen permanent, sind bequem, faul, überfürsorglich, emotional, aggressiv, sind extrem sozial oder gar nicht und verfügen entweder über zuviel oder zuwenig Selbstbewusstsein, in jedem Fall aber über kein Maß.

Sie sind die, die jeder an seiner Seite haben will, wenn er etwas braucht.
Schwieriger wird es schon, wenn es darum geht, dem Dicken etwas zu geben.
Wozu sollte ihm Respekt entgegengebracht werden, warum sollte er diskretere Blicke erwarten statt des offensichtlichen Anstarrens oder Schweigen statt des einen Gedanke, der wie „aus Versehen“ in Hörweite fallengelassen werden muss?
Er will es doch nicht anders – er schreit es uns doch förmlich ins Gesicht, mit seinem dreifach Kinn, seinem Watschelgang, seiner ächzenden Atmung:
Ich bin fett! Macht mit mir was ihr wollt.

Ein Paradoxon des Dickseins liegt darin, das der Dicke als solches oft von zwei Wünschen getrieben wird - sich zu schützen und nicht sichtbar zu sein.
Natürlich macht er sich aber mit seinem „dicken Fell“ alles andere als Unsichtbar und dadurch letztendlich auch Angreifbar.
Die meisten werden nicht seit ihrer Geburt zu dick gewesen sein, bei manchen liegt tatsächlich eine genetische Disposition oder eine Krankheit vor, bei anderen jedoch vielleicht charakterbedingte Trägheit oder sie mussten einfach nur eine Schicht zwischen sich und der Welt schaffen, die ihnen zu bedrohlich oder zu schnell erschien. Auch die Gleichsetzung von Nahrung, Fürsorge und sich lieben ist eine immer währende Falle.
So vielfältig die Gründe sind, die zum Dicksein führen, so vielfältig ist auch der Dicke an sich.
Einige verkriechen sich, andere schmücken sich, manche suchen sich eine Welt der Gleichgesinnten und manche machen nicht viel Aufhebens darum.
Diese wollen reden, jene wünschten sich, es würde geschwiegen werden.
Manche rufen, „Jetzt erst recht!“ und andere fragen „Warum nur ich?“, dritte sagen „Es ist eben wie es ist.“

Jeder Dicke hat seine eigene Geschichte, seine Gründe zu leben und zu erleben, wie alle anderen Menschen auch.
Sicher kann man im Gegensatz zu blauen Augen etwas gegen das Dicksein machen, aber nicht jeder will es, nicht jeder kann es, nicht jeder schafft es.

Diese Art, einen Fehler deutlich zur Schau zu tragen, scheint für viele jedoch unerträglich zu sein, gemahnt es sie doch, nicht dem Genuss auf den Leim zu gehen und der Sinnlichkeit zu entsagen.
Vor allem jedoch scheint es sie ihre gute Kinderstube vergessen zu lassen. Selten wird von Menschen auf jemanden mit soviel Unhöflichkeit, Respektlosigkeit oder offenem Hass reagiert, wie auf Dicke.

Es wäre falsch von mir, an dieser Stelle zu sagen, das sich diese Menschen viel an Lebensqualität nehmen, aus Angst die Kontrolle zu verlieren und sich entsprechend verhalten, denn auch das wäre nur ein Vorurteil. Lebensqualität wird schließlich von uns selbst definiert und nicht jeder schätzt ein gutes Essen höher ein als Bewegungsfreiheit.

Aber eines kann ich mit Bestimmtheit sagen: Anspruch auf gutes Benehmen und eine respektvolle Behandlung hat jeder, ob er dick ist, ihm ein Arm fehlt oder ob er an Vollkommenheit leidet.
Sich ob eines körperlichen Mangels über einen anderen zu erheben ist billig, eitel und, ehrlich gesagt, zeugt es, für meine Begriffe, nicht sonderlich von Intelligenz. Dies gilt sowohl für den „Normalen“, der sich lustig macht als auch den „Beschädigten“, der meint, auf Grund seiner Andersartigkeit etwas Besseres zu sein.

Wenn wir alle mehr Energie in den guten Umgang miteinander fließen lassen würden, würde es vielleicht auch nicht mehr ganz so viele Dicke geben, denn dann könnten auch diese sich, und nur sich, im Spiegel sehen.

Was mich angeht – ich habe schon immer zu laut gelacht.