Wednesday, May 03, 2006

Darf ich mal bitte?

Es ist ja immer so eine Sache mit dem Aufstehen während der Vorstellung in Kino, Oper, Theater, Konzert oder der Sportveranstaltung. Auch im Flugzeug oder im Reisebus scheut man sich, dem Sitznachbarn sein Hinterteil oder seine vordere, untere Gürtellinie ins Gesicht zu strecken, sofern dies nicht absolut notwendig ist.
Wird es doch notwendig, wird der Vorgang für die meisten zu einer Odyssee von ungewollten Berührungen und Einblicken, deren Peinlichkeit man mit „Darf ich mal bitte?“ oder „Entschuldigung, könnte ich mal...“ versucht zu überspielen.
Schon für normal gebaute Menschen mit einem gesunden Sinn für die Ein-Meter-Regel ist diese Art des Aufeinanderhockens nicht immer gut zu ertragen. Ausdünstungen, Geräusche, Geschwätzigkeit, ungefragte Kommentare, der Kampf um die Armlehne oder einfach eine schlechte zwischenmenschliche Chemie lassen manchen Sitznachbarn wenig sympathisch erscheinen.
Je nach Verweildauer von zweistündiger Kinovorstellung bis zum Langstreckenflug ist man trotzdem immer wieder gezwungen, Kontakt aufzunehmen, um seinen Bedürfnissen über das Sitzen hinaus Raum zu geben.
Für nicht normal gebaute Menschen, man könnte sie auch je nach Grad des Übergewichts als dick oder fett bezeichnen, ist dieser Moment besonders heikel. Hat man nicht gerade den Prominentenbonus eines Ottfried Fischer, wird meist mit hochgezogener Augenbraue oder anderen Ausdruckmitteln des Entnervtseins reagiert. Auch ist der häufig nicht zu vermeidende Tritt auf den Fuß des anderen im wahrsten Sinne des Wortes schwerwiegender als bei einem Normalgewichtigen. Oft reicht es nicht, einfach die Knie ein wenig zur Seite zu schieben, um den nötigen Durchgangsplatz zu schaffen. Steht man jedoch auf, kommt aus den hinteren Reihen augenblicklich meuterndes Geraune bis hin zu patzigem „Hinsetzen!“. Die daraufhin Angeraunten, drehen sich zu den hinteren Reihen um, zucken die Achseln und weisen mehr oder weniger verstohlen auf den wahren Verursacher.

In vollem Bewusstsein all dessen fällt es mir manchmal schwer, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben.
Zum Beispiel liegen mir ausverkaufte Veranstaltungen nicht sehr, da ich das Gefühl habe, das eh schon volle Schiff zum kentern zu bringen. Dicht an dicht mit Menschen und in meinem Fall dichter an noch dichter, da ich in meinem Sitz keine Rückzugsreserven mehr habe, trägt zum allgemeinen Unwohlsein in meiner Gegenwart bei. Ich spüre, wie das nicht nur mir sondern auch meinem Nachbarn so geht. In solchen Momenten fühle ich mich so präsent als hätte man einen Scheinwerfer auf mich gerichtet und so raumfüllend wie der Korken in der Flasche. Daher sehe ich die guten Filme meist in der kaum besuchten Nachmittagsvorstellung oder erst auf DVD.
Auch zähle ich die Mitfahrenden in einem Fahrstuhl, achte auf das Schild, auf welchem die zugelassene Nutzlast und die entsprechenden Personenanzahl vermerkt ist, kalkuliere mich mal zwei und steige im Zweifelsfall wieder aus, um entweder zu Fuß zu gehen (welches der gesunde Weg ist) oder auf den nächsten Lift zu warten.
Fliegen ist zur Zeit überhaupt kein Thema, da ich von der Fluggesellschaft verpflichtet werden würde, zwei Sitze zu buchen, was gerade in diesem Jahr dazu geführt hat, das zwei liebe Menschen ohne mich nach London fliegen werden. (Na gut, meine ausgeprägte Beziehung zu festem Boden unter meinen Füssen spielt auch eine gewisse Rolle.)
Auf den Toiletten einiger Gaststätten und Veranstaltungsorte dürften schon normalgewichtige an ihre räumlichen Grenzen stoßen, doch ich kann mich noch freuen, wenn ich die Tür schließen kann ohne schon auf dem Klobecken stehen zu müssen.
Hotelbadezimmer, von der Kunst auf kleinstem Raum möglichst viel Komfort zu erzielen, geprägt, lösen in mir klaustrophobische Zustände im Duschbereich aus, da der Architekt in diesem weder den langen noch den breiten Menschen einkalkuliert hat. Und zu welcher Kategorie ich gehöre, denke ich, ist klar.
Stühle mit Armlehnen, von mir früher sehr geschätzt, lassen mich heute zurückschrecken. Werde ich hineinpassen? Bänke relativieren diese Problematik einigermaßen, aber nun sitze ich wieder Po an Po mit dem Banknachbarn, fühle mich wie ein Berg neben ihm und beanspruche mehr Raum als mir und ihm lieb ist.
Stühle ohne Armlehne sind komfortabel und meist ausreichend für mich, jedoch, sofern sie nicht über eine entsprechende Rückenlehnenhöhe verfügen, begrabe ich sie regelrecht unter mir und von ihrer Optik bleibt nicht viel, sofern man nicht gerade hinter mir steht. Ebenso ist im Kino der Platz am Gang die Lösung und die Treppe statt des Fahrstuhls, sofern ich nicht gerade in das fünfte oder ein noch höheres Stockwerk muss.
Fliegen bleibt fürs erste gestrichen und Zugfahren kann eine, wenn auch inzwischen teurere Lösung sein, so denn es nicht nach Übersee geht. Aber wann geht es das schon?

Es scheint, das ich viel Platz in dieser Welt beanspruche.

1 Comments:

Blogger pinksonly said...

...und nimm dir den Platz! Du hast ihn verdient. Ich bin immer ganz berührt von deinen Beiträgen im "Zweiten Ich", ich finde sie mutig, ehrlich und immer gut geschrieben. Dein "Fan"

4:24 AM  

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